Warum schreien Babys?

Untersuchungen haben gezeigt, dass Babys im Alter von zwei Wochen im Durchschnitt 1,75 Stunden pro Tag schreien. Die Schreizeit nimmt bis zum Alter von sechs Wochen auf 2,5 Stunden pro Tag zu. Bis zum Alter von vier Monaten fällt das Schreipensum dann auf eine Stunde ab. Dabei schreien Erstgeborene etwas mehr als Folgekinder, und Kinder, die viel am Körper getragen werden, schreien insgesamt weniger.

Manchmal wissen Eltern sofort, was los ist: Hunger, Schreck, Schmerzen (vom Zahnen über Blähungen bis hin zum wunden Po) oder unbequeme Lagerung. Oder das Baby schreit, wenn es krank ist oder friert oder zu warm eingepackt ist. Oder weil es einsam ist oder den Wunsch nach Körpernähe verspürt. Im Kleinkindalter kommen Angst, Zorn, Eifersucht und Frustration als Schreimotive hinzu.

Viele Eltern machen aber auch die Erfahrung, dass Babys schreien, wenn sie einfach genug von Allem haben – sie haben noch nicht gelernt „abzuschalten“ und begegnen der Reizüberflutung durch Schreien. Dies dürfte der Grund sein, weshalb Babys an hektischen Tagen mehr schreien und sich auch dann häufiger mit Gebrüll melden, wenn sie müde oder „aus dem Rhythmus“ sind.

Dreimonatskoliken

Viele Säuglinge haben direkt nach dem Trinken eine kurze „Kampfzeit“. Das Baby hat vielleicht einen geblähten Bauch, spuckt ein bisschen oder weint – mit dem "Bäuerchen" hört das Weinen auf.

Anders ist es bei den so genannten Dreimonatskoliken, an denen etwa 20 % der Babys leiden. Bei diesen schreien die Babys anhaltend und immer wieder und es bleibt unklar, was dahinter steckt. Die „Koliken“ beginnen oft schon nach den ersten Lebenstagen. Die Babys schreien bevorzugt in den frühen Abendstunden, oft aber auch noch in die Nacht hinein. Glücklicherweise ist aber Licht am Ende des Tunnels: 85 % der Babys haben ihre „Kolikzeit“ mit drei Monaten hinter sich.

Oft beginnt das Schreien beim Trinken oder kurz danach und verläuft recht typisch: Die Babys schreien schrill, die Stirn ist gerunzelt und das sonst meist gut wirksame Hochnehmen oder Füttern helfen nur zeitweilig. Findet das Kind schließlich zur Ruhe (meist nach etwa 5–20 Minuten), kommen die Attacken oft in Abständen wieder.

Ursachen unklar

Die Ursachen für die Schreiattacken sind nicht bekannt; vieles deutet aber darauf hin, dass dies Bauchkrämpfe sind. Die Säuglinge ziehen die Beinchen an und strecken sie dann plötzlich wieder, als wollten sie den Schmerz „wegkicken“. Der Bauch ist oft angespannt. Sanftes Streicheln des Bauches bringt manchen Säuglingen Erleichterung. Schwedische Forscher konnten bei Kolikkindern ein Zuviel an bestimmten, auf die Darmbewegungen wirkenden Hormonen nachweisen (z. B. Motilin). Eine Studie der Universität Houston hat gezeigt, dass Kolikbabys eine ungewöhnlich kleine Vielfalt von Bakterien im Darm haben. Das Klebsiella-Bakterium findet sich bei ihnen dagegen überdurchschnittlich häufig. Die Forscher hoffen, bald eine Therapie gegen das anhaltende Schreien zu finden, die auf probiotischer Ernährung basieren soll.

Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Bauchkrämpfe erst als Folge des Schreiens und der damit verbundenen Aufregung entstehen, dass also ganz am Anfang ein anderer Auslöser steht und sich dann „auf den Bauch schlägt“.

Was auch immer der Auslöser ist, er scheint wenig damit zu tun zu haben, was Eltern tun oder lassen. Studien zeigen, dass Mütter von Kolikkindern sich in Nichts von denen unterscheiden, deren Kinder keine Koliken haben. Sie sind weder „unsicherer“ noch weniger „bindungsfähig“ noch unterscheidet sich der Erziehungsstil. Oft ist in derselben Familie das eine Geschwisterkind betroffen, das andere nicht.

Auch eine auslösende Rolle für „Allergien“ oder „Milchunverträglichkeit“ konnte für die allermeisten Fälle nicht bestätigt werden – solche Krankheiten zeigen sich nicht nur durch Schreien, sondern auch durch andere Zeichen wie Durchfall, Blut im Stuhl oder schlechtes Gedeihen. Dass die Nahrung bei den allermeisten Kindern keine Rolle spielt, zeigt auch die Tatsache, dass „Koliken“ bei gestillten und nichtgestillten Kindern etwa gleich häufig vorkommen. Die ebenfalls manchmal angeschuldigte Unverträglichkeit von Milchzucker (Laktoseintoleranz) ist so selten, dass sie als generelle Erklärung kaum gelten kann.

Was tun bei Schreiattacken? Prüfen Sie als erstes, ob Ihr Baby krank ist und deshalb schreit. Dies ist anzunehmen, wenn

  • Blut in der Windel ist.
  • das Baby nicht gedeiht.
  • das Baby nicht gut trinkt.
  • es apathisch, lustlos oder blass (bzw. blass-grau) ist.
  • es immer wieder erbricht.
  • es schmerzhaft oder schrill schreit, und dies länger als eine Stunde, und sich nicht entspannen kann. Dies ist ungewöhnlich und kann auf einen eingeklemmten Leistenbruch oder eine Darmeinstülpung hinweisen.
  • In diesen Fällen suchen Sie sofort den Kinderarzt auf.

Immer gefährlich: Darmeinstülpung

Bei der Darmeinstülpung (Invagination) stülpt sich ein Darmabschnitt ohne bisher bekannte Ursache teleskopartig in sich ein. Dadurch wird die Durchblutung unterbunden. Etwa 80 % aller Darmeinstülpungen treten bei Babys im 6.–12. Monat auf. Typisch ist plötzlich einsetzendes Schreien, das nicht aufhört.

Oft zieht das Kind die Beinchen an, manchmal erbricht es auch. Auch wenn das Baby sich zwischendurch beruhigt, kommen die Schmerzattacken wieder, und möglicherweise wird das Kind blass, unruhig oder sogar apathisch. Blutig-schleimige Stühle können nach ein paar Stunden hinzukommen.

Manchmal kann der Kinderarzt den betroffenen Darmabschnitt tasten, oder die Diagnose wird durch ein Ultraschall oder eine Röntgendarstellung des Dickdarms mit durch den Po eingeflößtem Kontrastmittel gestellt. Die letztere Untersuchung beseitigt in den meisten Fällen gleichzeitig die Ursache: Durch den Druck des flüssigen Kontrastmittels wird das eingestülpte Darmstück wieder in die richtige Lage geschoben. Gelingt dies nicht, muss operiert werden.

Keine Patentlösung

Bei Dreimonatskoliken funktionieren die beim „normalen Schreien“ wirksamen Strategien – wie Stillen, Füttern oder den Schnuller geben – nicht. Oft macht gerade das Anlegen oder Füttern die Sache noch schlimmer. Eher bringen die folgenden Strategien Erleichterung:

Tragen und Körperkontakt. Bei vielen Babys hilft Herumtragen, Schaukeln und enger Körperkontakt. Dabei bevorzugen manche Babys kräftige Bewegungen, andere mögen es sachte.

Einwickeln. Viele Eltern haben auch gute Erfahrungen damit gemacht, das Baby fest in ein großes Handtuch einzuschlagen und es dann sanft in den Armen zu wiegen. Auch ein warmes Bad kann möglicherweise eine Kolik „lösen“.

Tragetuch oder -gestell. Gut bewährt hat sich auch, das Baby in ein Tragetuch zu nehmen, und zwar auf den Rücken; dort lässt sich das Kind ohne viel Mühe schaukeln.

Rhythmen. Manche Kolikkinder können durch Rhythmen oder auch durch monotone Töne beruhigt werden, etwa wenn Sie den Staubsauger anstellen oder das Baby auf eine Spazierfahrt mit dem Auto mitnehmen oder mit ihm an der frischen Luft spazieren gehen. Auch Singen hat sich bewährt.

Einreiben. Manche Säuglinge mögen es, wenn der Bauch mit Fenchelöl eingerieben wird und zwar langsam im Uhrzeigersinn, immer um das Bäuchlein herum (in dieser Richtung arbeitet auch der Dickdarm).

Am wichtigsten ist aber die eigene Entlastung – denn jeder läuft bei einem unstillbar schreienden Säugling Gefahr, einfach „durchzudrehen“. Wann immer möglich, sollte deshalb in den schweren Wochen der Partner, die Tagesmutter, eine Freundin oder Verwandte in den Abendstunden mit aushelfen. Hilfreich ist es auch, wenn jeweils ein Elternteil bei dem schreienden Säugling bleibt, während der andere zur eigenen Entlastung für einige Minuten den Raum verlässt. Nach 5–15 Minuten kann dann getauscht werden.

Kann man Koliken vorbeugen?

Leider werden hierzu oft Patentlösungen angeboten, die aber immer nur beim Nachbarkind zu funktionieren scheinen. Die meisten Eltern von Kolikkindern stellen fest, dass sich mit den ergriffenen Maßnahmen allenfalls einmal eine Etappe gewinnen lässt.

  • Entschäumende Medikamente (Simeticon, z. B. in Lefax® oder Sab simplex®) können bei einfachen Blähungen Erleichterung bringen; bei Koliken haben sie keine Wirkung. Dasselbe gilt für homöopathische Medikamente.
  • Die Ernährung der stillenden Mutter umstellen. Auch das ist einen Versuch wert, aber mehr nicht. Lassen Sie die blähenden Zwiebeln, Bohnen und vielleicht auch Kraut weg. Die Beweise, dass solche Nahrungsumstellungen aber etwas bringen, sind sehr dürftig.
  • Das gilt auch für einen Wechsel der Milchfertignahrung. Natürlich schadet es nicht, einmal von Hipp auf Beba zu wechseln oder umgekehrt, und oft glaubt man auch in den ersten Tagen, das Schreien würde weniger – aber der Effekt hält meist nicht an. Das gilt grundsätzlich auch für die oft empfohlenen hypoallergenen Nahrungen (HA-Nahrungen): Es gibt zwar durchaus positive Studien, liest man die aber genau, so ist auch hier nicht klar, ob das positive Ergebnis an den Nahrungen selber liegt oder nur an der Erwartung der Eltern. Dasselbe gilt für „alternative“ Milch wie Sojamilch.
  • Und anders stillen? Auch das entpuppt sich meist als nutzlos. Ratschläge wie „Pumpen Sie die ersten 30 Gramm ab, damit die Milch nicht in den Mund Ihres Babys schießt“ oder „Begrenzen Sie das Stillen auf 20 Minuten“ sind gut gemeint, aber meist bringen sie nur zusätzliche Arbeit, Anspannung und Verdruss. Einfacher (und nach einzelnen Studien auch erfolgreich) mag es sein, das Baby insgesamt öfter anzulegen – dies könnte den Magen bei den einzelnen Mahlzeiten entlasten.
  • Einfacher umzusetzen ist der Tipp, Ihr Kind häufiger aufstoßen zu lassen, oder, bei Flaschenkindern, kein zu großes Saugerloch zu verwenden.

Auf keinen Fall sollten Sie mit dem Stillen aufhören. Es ist nicht die Muttermilch, die an dem Weinen Ihres Kindes schuld ist.

Schreikinder

Etwa 10 % der Kinder schreien noch nach dem vierten Lebensmonat, also nach der eigentlichen Kolikzeit sehr viel, und sie halten sich dabei auch oft nicht an die – im „Kolikalter“ bevorzugten – Abendstunden. Wer genau als ein „Schreikind“ zu bezeichnen ist, ist natürlich sehr subjektiv, und oft bezeichnen Eltern ihr Kind einfach dann als „Schreibaby“, wenn es mehr schreit, als es ihre Nerven aushalten. Kinderärzte verwenden dagegen die Wesselsche Dreierregel, nach der ein Kind ein Schreikind ist, wenn es länger als drei Stunden täglich schreit oder quengelt, und dies häufiger als an drei Tagen in der Woche und länger als drei Wochen.

Warum manche Kinder so übermäßig viel schreien, ist unklar. Manche Schreibabys haben Dreimonatskoliken, die länger als drei Monate dauern oder ungewöhnlich heftig verlaufen. Oder dem Schreien liegt eine Krankheit zugrunde, z. B. eine Mittelohrentzündung oder eine Refluxkrankheit mit einer Reizung der Speiseröhre. Auch wenn letzteres selten ist: Der Kinderarzt ist bei solchen Kindern zunächst die richtige Adresse. Aber meistens kann niemand sagen, was den Kindern fehlt:

  • Es könnte eine Reaktion auf besonders stressvolle Startbedingungen im Leben sein – etwa auf nur schwer zustande kommende Beziehungen zu den Eltern oder eine „Kommunikationsstörung“ zwischen Baby und Mutter, bei der die wechselseitigen Signale nicht richtig aufgegriffen oder falsch interpretiert werden.
  • Die betroffenen Kinder könnten von ihrem Naturell her „schwieriger“ sein als andere Kinder. In der Tat bezeichnen nicht wenige Eltern von Schreikindern ihre Kleinen als „fordernd“, „unzufrieden“, „leicht reizbar“ und „schwer zu trösten“. Und immer wieder ist auch eine niedrigere Reizschwelle zu beobachten, die sich durch ständige körperliche Unruhe und schlechten Schlaf zeigt. Später sind einige dieser „Rund-um-die-Uhr-Babys“ hyperaktiv, haben mehr Wutanfälle als andere Kinder und passen sich nur schwer im Kindergarten und in der Schule an. Zumindest bei einem Teil der Kinder könnte das exzessive Schreien also Teil einer generell erhöhten Reizbarkeit sein.
  • Bei sehr vielen Kindern lassen sich weder besonders stressige Bedingungen ausmachen, noch sonstige Belastungen (wie etwa Rauchen in der Schwangerschaft) erkennen, im Gegenteil: Sie haben engelsgleiche Eltern und schreien trotzdem.

In diesen Fällen kann oft nur professionelle Beratung helfen. Denn wenn sich Babys trotz bestem Willen nicht trösten lassen, dann weckt das bei den Eltern Gefühle von Schuld und Versagen, die dann auch den „normalen“ Umgang mit dem Kind belasten. Hier helfen spezielle Schreisprechstunden oder „Schreiambulanzen“, die heute an praktisch allen Universitätskliniken und auch an vielen Kinderkrankenhäusern angeboten werden.